Die Völkerkunde und das Tanzverbot

15.10.2012 23:12

 

- zur Überlieferung der Musik der nordamerikanischen Ureinwohner

 

 

 

Einleitung: Die schweigenden Sänger

 

Was fällt einem heute ein, wenn man an die Musik der nordamerikanischen Ureinwohner denkt?

Viele Menschen kennen diese nur noch aus Filmen oder aus der Darstellung diverser Wild-West-Shows und oft in einem eher bedrohlichen Zusammenhang. Wer schon einmal indianische Musik „live“ gehört hat, hat dies meist entweder im Rahmen von Tourismus oder Straßenmusik.

Wie viele Rückschlüße lässt dieser Erfahrungspielraum jedoch noch zu?

Wie bei fast allen, im Zuge der Kolonialisierung extrem dezimierten, Bevölkerungsgruppen ist die Geschichte der Musik und anderer kultureller Praktiken der „Native Americans“ leider nur äußerst lückenhaft überliefert. Bei näherer Betrachtung kann es sich hier, wie leider auch in vielen anderen Fällen, weniger um eine Musikgeschichte nach europäischem Verständnis handeln, als vielmehr um eine Dokumentation der Ausmaße der Vernichtung kulturellen Erbes. Die Frage nach der Musik der nordamerikanischen Einheimischen ist gleichzeitig auch die Frage nach dem, was verschwunden ist - was niemand mehr wiederzugeben imstande ist.

Es bietet sich also in diesem Zusammenhang an, die Frage zu stellen, inwieweit es überhaupt noch möglich erscheint, ein weitgehend ungefärbtes Bild von einer Musik zu rekonstruieren, die durch Zivilisierungsanstrengungen, Popkultur und politische Repression hindurch, ähnlich einer antiken Vase, nur noch in Fragmenten betrachtet werden kann.

Wie nahe kann eine heutige Vorstellung von „Indianermusik“ noch heranreichen an dass, was die Ureinwohner des Kontinents einst zu musizieren vermochten?

Nach und nach, besonders in der Zeit der Spätromantik und der mit ihr verbundenen Rückbesinnung auf Volkstümlichkeit und Naturverbundenheit, war es einigen Forschergeistern vergönnt, noch ein wenig von dem aufzuzeichnen, was weitgehend dem historischen Untergang geweiht war. Ironisch fast erscheint, dass die Zeit dieser Dokumentationen auch genau mit der Zeit zusammenfiel, in der es, aufgrund der fortschreitenden Europäisierung des Kontinents, kaum noch etwas zu dokumentieren gab.

Wesentlich ist hierbei zunächst der historische sowie kulturelle Kontext, in dem die ersten Dokumentationen dieser Musik entstanden. Da davon ausgegangen werden kann, dass die musikalischen Aufführungen der bis dahin überlebenden Indianer ab dem Zeitraum um die letzten Indianerkriege (bis 1890) für Touristen und Wild-West-Shows sehr stark auf die westliche Hörerwartung zugeschnitten wurden, sind diese ersten Aufzeichnungen und der subjektive Blick der Forscher hier von ganz besonderer Bedeutung.

Weiterhin muss beachtet werden, welche Rolle diesen musikalischen Aufzeichnungen und Anpassungen innerhalb des Kontextes der europäisch geprägten Musikwelt zugestanden wurde.

Hierbei möchte ich auch einen besonderen Augenmerk auf die systematische „erzieherische“ Arbeit der staatlich geförderten Internate lenken, die an den Kindern der letzten Überlebenden bezüglich ihrer eigenen Traditionen geleistet wurde.

Als kulturelles Gegenstück zu dieser europäischen Sichtweise kann aufgrund der besonderen historischen Umstände auf dem nordamerikanischen Kontinent eine weitere Perspektive, nämlich die der afroamerikanischen Musiktradition, zu Rate gezogen werden, welche sich auf ihre eigene Art und Weise mit den typisch erachteten Klängen der amerikanischen Ureinwohner auseinandergesetzt hat. Eine besondere Form der Dokumentation stellt hier das Mardi Gras-Festival in New Orleans dar, welches seit über hundert Jahren seinen festen Platz in den Karnevalsfeierlichkeiten der Stadt findet. Hier wird, zusätzlich zu den Forschungsanstrengungen der westlichen Welt, eine Auffassung typischer musikalischer Elemente überliefert, die weiterhin zu einem möglichst scharfen Bild auf die verlorengegangenen Musikkultur beitragen kann.

 

 

1. Die erste musikalische Forschergeneration im Auftrag der Völkerkunde

 

Schon der erste europäisch tradierte Wissenschaftler auf diesem Gebiet, der Musiker Theodore Baker, zeigte von Beginn an eine große Faszination für die Musik der Ureinwohner, als er in das Reservat der Seneca reiste, um diese zu erforschen. Zusätzlich fließen in seine Arbeit viele recherchierte Behauptungen bezüglich anderer Stämme, wie beispielsweise der Irokesen, mit ein, deren Wahrheitsgehalt als mehr oder weniger spekulativ angesehen werden kann. Glaubwürdig erscheint jedoch der entstehende Eindruck bezüglich der Vielfältigkeit musikalischer Praktiken unter den verschiedenen nord- und mittelamerikanischen Stämmen.

Die Musik war ein selbstverständlicher Bestandteil im Leben jedes Stammes und musikalische Fähigkeiten sowie auch die Tanzhäuser1 , schienen weit verbreitet zu sein. Baker bemerkt hier in Bezugnahme auf den Gesang der Ureinwohner:

Über das harmonische Wesen der Indianergesänge haben sich in weiten Kreisen die irrtümlichsten Meinungen verbreitet. Einerseits wird behauptet, es sei unmöglich, ihrer harmonischen und rhythmischen Abweichungen wegen, die Melodien in unserer Notenschrift wiederzugeben, […]

Was die erste Ansicht betrifft, so sei nur bemerkt, das der Verfasser sich nicht damit begnügte, sich sämtliche Lieder von 1-32 vorsingen zu lassen, sondern er hat dieselben, sobald er sie einige Male gehört hatte, mit den Indianern zusammen durchgesungen; durch dieses Verfahren wäre eine wesentliche Abweichung von unseren Tonverhältnissen zu erkennen gewesen; der Verfasser hat sich vom Gegenteil überzeugt, dass die Indianer sehr rein (wie das Wort unter Musikern gebraucht wird) singen.“2

Auch wenn nicht nur der Titel von Bakers Dissertation „Über die Musik der nordamerikanischen Wilden“, die er 1882 einreichte, deutlich und unangenehm vom rassenideologischen Zeitgeist geprägt ist, so ist seine Haltung gegenüber der fremden Kultur auch an einigen Stellen wieder überraschend respektvoll.

Er schreibt aus seiner Sicht heraus über kulturell unterlegene Primitive, trotzdem scheint in seinen Schilderungen doch an einigen Stellen deutlich eine starke, am zeitgenössischen Bild des „edlen Wilden“ orientierte, Bewunderung hindurch, eine tiefe Sympathie für die, in seinen Augen primitive, emotionale Poesie der Ureinwohner, deren Gleichnisse und Ausdruckskraft er durchaus anerkennen kann, auch wenn der Grund für seine Faszination gegenüber den musikalischen Riten der Indianer für ihn hauptsächlich in deren Natürlichkeit und Ursprünglichkeit liegt.

In seinen eigenen Worten :

Die Beziehung des Indianers zur Natur, sein Leben in und unmittelbare Berührung mit ihr, geben seinem Geiste die Kräftigste und dauerndste Anregung; aus dieser nie versiegenden Quelle quillt ihm, in ewig wechselnden Formen, der Gedanken- und Empfindungsstoff entgegen, welcher einen grossen Theil seiner Gedichte ausmacht; und gerade in dieser Unmittelbarkeit der Wirkung und Empfindung liegt der Hauptreiz derselben. Seine Reden, sowohl wie seine poetischen Erzeugnisse, zeigen eine Fülle der schönsten, der Natur direkt entliehenen Gleichnisse“3

Er dokumentiert sehr detailliert Gesänge und Instrumentalstimmen, zeichnet die Bauweisen der Blasinstrumente nach und zeigt sich stellenweise tief beeindruckt. Einerseits mutmaßt er aus seiner kulturellen Prägung heraus darüber, dass die „Wilden“ aufgrund ihrer geringeren geistigen Fähigkeiten zu stärkeren Emotionsäußerungen imstande seien und führt viele Merkmale der Musik direkt auf einen mutmaßlich geringeren geistigen Horizont der Ureinwohner zurück, während er aber gleichzeitig versucht, die dokumentierten Tonfolgen hingehend ihrer Intervalle in die griechischen Skalen einzuordnen, was ihm bezüglich der Grundintervalle auch problemlos gelingt.

Systematisch untersucht er die Musik auf jedes ihm bekannte Muster hin, das ihm passend erscheint und stellt hierbei Parallelen und Unterschiede zur europäischen Tradition heraus.

In der musikalischen Analyse seines erarbeiteten Tonmaterials behilft er sich dem Bild von Vor- und Nachschlägen um die charakteristischen „Schleifer“ indianischer Gesänge zu beschreiben, stößt hier aber wie auch beim Rhythmus merklich an seine Grenzen:

 

[…], ungefähr wie bei uns ein schlechter Sänger, anstatt ein Intervall rein zu nehmen, beim unsicheren Uebergange die Zwischentöne undeutlich hören lässt, nur dass dies in den Indianergesängen mit Absicht und folglich mit mehr Deutlichkeit geschieht [...]Die Schleifer und das Knurren sind als charakteristisch wilde Vortragsmanieren zu bezeichnen.“4

Dieser wild dahinstürmenden Melodie ist der Begriff „Tact“ nicht anzupassen; sie sucht sich von der beschwerlichen Monotonie der rhythmischen Begleitung durch seltsame Sprünge und gewaltsames Hin- und Herzerren des Accents loszuwinden, wird aber trotzdem von der unbezwinglichen Flut hingerissen.“5

In Bezug auf mehrstimmige Gesänge weiß Baker im Wesentlichen zu berichten, dass die Indianer sich hier wohl außerhalb eines dokumentierbar erscheinenden Rahmens bewegten6.

Sowohl er als auch Frances Densmore, die einige Jahrzehnte später seinem Beispiel folgte, betonen die große Rolle von Schlaginstrumenten und die Präsenz der vielfältigen Flöten und ähnlicher ausgefeilterer Blasinstrumente, die in einigen Stämmen, wie bei den Apachen, sogar zur Grundausstattung eines jeden Mannes zählten.

Auch soll es Saiteninstrumente in verschiedenen Varianten (bis zu acht Saiten) gegeben haben.7

Densmore, die wohl engagierteste Forscherin auf diesem Gebiet, die ihr Lebenswerk (1867-1957) voll und ganz der Dokumentation der Kultur der amerikanischen Ureinwohner widmete und mit Hilfe der neuen technischen Möglichkeiten im Laufe ihres Lebens 3.500 indianische Lieder aufzeichnete und 2.500 davon transkribierte, sah ihre Aufgabe hauptsächlich in der Bewahrung eines, zum Untergang bestimmten, geistigen Erbes.

Über die schlichte Musikdokumentation hinaus beschäftigte sie sich auch intensiv mit anderen Aspekten des kulturellen Lebens und konnte so einen wesentlichen Beitrag zur Überlieferung eines realistischen Bildes indianischen Lebens leisten. Weit stärker als Baker setzte sich Densmore so auch mit der Bandbreite und Differenziertheit der unterschiedlichen Stammesmusiken auseinander und engagierte sich später stark für die Verwendung ihrer Aufzeichnungen im Lehrplan der „Indian Boarding Schools“, auf die ich im weiteren Verlauf näher eingehen möchte.

In ihrem 1936 erschienenen Buch „American Indians and Their Music“ fasste sie unter anderem auch den bisherigen Forschungsstand zusammen.8 Von Baker an gerechnet hatten sich fünfzehn verschiedene Forscher in insgesamt achtunddreißig Veröffentlichungen der wichtigen dokumentarischen Arbeit bezüglich der Musik angenommen.

Diese Forschergeneration, der noch wenige andere bekanntere Namen wie z.B. Alice Fletcher zuzuordnen sind, leistete aus dem Rahmen ihrer eurozentrischen Weltsicht heraus, wohl das ihr Mögliche, um kulturelles Erbe zu bewahren, war aber aufgrund der schwindenden Quellen und Gelegenheiten zur Feldarbeit nur noch in der Lage, ein Minimum von dem festzuhalten, was an musikalischer Vielfalt vor dem Eintreffen der europäischen Invasoren auf dem nordamerikanischen Kontinent vorhanden gewesen sein muss.

 

 

2. Beispiele der Verarbeitung innerhalb der europäischen Musiktradition

 

Innerhalb des weiten Spektrums der spätromantischen Bearbeitungen volkstümlicher Melodien aller erdenklichen Bevölkerungsgruppen ist auch der Musik der nordamerikanischen Ureinwohner ein Anteil an Werken europäischstämmiger Komponisten gewidmet.

Edward MacDowell bezog sich beispielsweise direkt auf das von Baker erarbeitete Tonmaterial.

Seine zweite, sogenannte „indianische“ Suite bedient sich der Melodien Bakers, die jedoch unmerklich mit der europäischen Klangfarbe zu einem Gesamteindruck verschwimmen, der den Gedanken nahelegt, dass diese verwendeten Tonfolgen ebenso einem jungen Schüler am Leipziger Konservatorium in den Kopf gekommen sein könnten.9

Auch Dvořák der, wie er behauptete, seine „Sinfonie aus der neuen Welt“ im Geiste dieser amerikanischen Volkslieder geschrieben hatte oder dem US-amerikanischen Komponisten Charles Sanford Skilton fiel es recht leicht mit Harmonisierungen der Melodien den europäischen Hörgewohnheiten gerecht zu werden.

Auch wenn Baker noch schreibt, es sei „kaum zu erwarten, dass diese Lieder, ihrer natürlichen, wilden Umgebung entrissen, hier denselben Eindruck machen sollten wie dort“10, so ließen sich die Melodien wohl trotzdem aus ihrem sozialen Kontext lösen und in einen anderen kulturellen Zusammenhang übersetzen.

Es kann gesagt werden, dass hier, wie in der kompositorischen Arbeit der Romantik üblich, die melodischen Motive aus der Volksmusik lediglich als Grundmaterial für die Umsetzung im Stil des europäischen Komponisten verwendet wurden, was zusammen mit der klassischen Instrumentierung leicht erklären kann, wie wenig „Indianisches“ hier noch direkt zu spüren ist. Besonders gut lässt sich dieser Effekt an den beiden, von der Library of Congress online zur Verfügung gestellten, Musikbeispielen Skiltons ablesen, dem „War Dance“ und der „Sioux Flute Serenade“ von 192411. Beide beginnen jeweils mit einem der typischen Instrumente (Flöte und Trommel), zeigen hier zu Beginn noch deutlich „indianischen“ Charakter und lösen sich mit dem Einsatz der anderen europäischen Instrumente, besonders der Streicher, von ihrer eindeutigen Zuordnung und tendieren zu einem volkstümlich anmutenden romantischen Stil, der jedoch kaum wirklich ortsgebunden erscheint.

Auch wenn in diesen und anderen Werken die authentische Klangfarbe der Originalmusik nahezu unerkennbar bleibt, so nutzten doch innerhalb der damaligen Mode einige Komponisten gerne die Möglichkeit der Harmonisierung und Europäisierung der vielfältigen Melodien aus dem Schatzkästchen der direkten Überlieferungen.

Häufigere Verwendung fand der, stark auf den Instrumenten und Stimmen basierende, typische Klangeindruck der nativ amerikanischen Musik wohl in den fahrenden Wild-West-Shows, die im Zuge der großen Popularität von exotischen Abenteuerromanen sehr weit verbreitet waren, großen Wert darauf legten, die Auftritte der Indianer mit furchterregenden Kriegsgesängen zu untermalen und hierbei auch gerne die typischen Instrumente und Tänze in ihr Programm integrierten.

Hierzu beschreibt Paige Clark Lush in ihrem Artikel für das Magazin „Americana“ 2008 die Rolle der sog. Circuit Chautauqua-Bewegung, die zu Beginn des 20. Jhd. als fahrendes Spektakel der Kulturen herumreiste und neben anderen Ethnien auch typisch nativ amerikanische Lieder und Tänze bekannt machte. Wie in diesem Rahmen individuell dramaturgische Arbeit und historisches Bewusstsein gewichtet wurden, lässt sich hier leider im Detail nicht mehr nachvollziehen, sicher scheint jedoch die unterschwellige Rolle, die diese Interpretationen später in der Filmmusik gespielt haben müssen.

 

 

3. Politische Maßnahmen bezüglich des Erhalts der Kultur der Ureinwohner

 

Entgegen den Bemühungen der zeitgenössischen Ethnologen wirkte sich das rassistische Gedankengut der Kolonialideologen auch in gesetzlichen Vorgaben gegenüber den Ureinwohnern aus. Wie in John W. Troutmans Buch „Indian Blues – American Indians and the Politics of Music (1879-1934)“ auf bisher einzigartige Weise dokumentiert wurde, geriet die ethnologische Arbeit in einen zeitlichen Wettlauf mit der Durchsetzung der Interessen des Office of Indian Affairs (OIA), welches es sich in seinem „assimilation program“ zum Ziel gesetzt hatte, die Kinder der Wilden zu zivilisierten und wohlerzogenen Menschen zu machen und ihren heidnischen Unglauben, der sich auch in ihren musikalischen Ritualen ausdrückte, endgültig Vergangenheit werden zu lassen.

Zu Tausenden wurden die jungen Ureinwohner aus den Reservaten geholt und in sogenannte „Indian Boarding Schools“ wie die „Carlisle Indian Industrial School“12 verbracht, in denen ihnen unter dem Leitsatz „Kill the Indian, save the man!“ die neue Kultur zur eigenen gemacht werden sollte.13 Besonders auch in Hinsicht auf kulturelle Praktiken wie Musik und Tanz bedacht, wurden hier die Rückbezüge zur eigenen Überlieferung in der Praxis nachhaltig und systematisch unterbunden.14

Die lange Tradition von stammesübergreifenden Musikveranstaltungen war, auch aufgrund der entscheidenden Rolle der Geistertanzbewegung innerhalb der, damals teilweise noch anhaltenden, Konflikte mit den letzten Widerständigen (Sitting Bull), ein Dorn im Auge der eingewanderten Ordnungsmächte. So verbot das OIA im Jahr 1882 das, regelmäßig am 4.Juli abgehaltene, „Sun Dance Festival“ der Sioux, welches für die soziale Verständigung der verschiedenen Stämme untereinander bis dahin von zentraler Bedeutung war und setzte auf die Durchführung dieser oder ähnlicher religiöser Zeremonien eine Gefängnisstrafe von dreißig Tagen aus.

Auch wenn die Ureinwohner, wie Troutman weiterhin dokumentiert15, sofort begannen, diese gesetzlichen Vorgaben auf kreativen Wegen zu umgehen, war das Risiko für die traditionellen Tanzfestivals damit selbstverständlich enorm gewachsen. Auch die „Dance Houses“ in Form von großen runden Versammlungshäusern, die weiterhin Raum für Musik und Tanz der Stämme boten, gerieten immer mehr unter Druck. Eine besondere Rolle spielte hier, wie Troutman betont, auch innerhalb der Sioux-Stämme der Stamm der Lakota, welcher, wie auch schon in den militärischen Auseinandersetzungen zuvor, besonders hartnäckig Wert auf den Erhalt seiner Traditionen legte und die Tanzveranstaltungen weiterhin konsequent fortsetzte.

Im Jahr 1923 wurde vom Kommissionar für Indianerangelegenheiten (Commissioner of Indian Affairs), in unterschwelliger Bezugnahme auf die Piercingrituale der Sioux16, ein Dekret verfasst, dass es nun völlig untersagte, die traditionellen Tänze weiter zu zelebrieren.

Im Wortlaut wurde verboten:

any dance which involves acts of self-torture, immoral relations between the sexes, the sacrifical d[e]struction of clothing or other useful articles, the reckless giving away of property, the use of injuurios drugs or intoxicants, and frequentor prolonged periods of celebration which bring the Indians together from remote points to neglect of their crops, livestock and home interests; in fact any disorderly or plainly excessive performance that promotes superstitious cruelty, licentiousness, idleness, danger to health, and shiftless indefference to family welfare.“17

Parallel zu diesen Entwicklungen schritten aber auch die zuvor beschriebenen wissenschaftlichen und künstlerischen Auseinandersetzungen der westlichen Welt mit der geschaffenen Minderheit weiter voran und das Interesse für die Kultur der Ureinwohner wuchs, vermutlich nicht ohne Anteil der erwähnten Wild-West-Shows und Tourismusinszenierungen.

Troutman erwähnt in Bezug auf einflussreiche Ethnologen innerhalb der OIA18 an dieser Stelle neben Frances Densmore auch Bakers Zeitgenossin Alice Fletcher, die zwar die Auffassung vertrat, die Indianer würden zu viel Land beanspruchen, jedoch der Kultur und damit der Musik in ihren Forschungsarbeiten besondere Aufmerksamkeit schenkte.

Die beiden Frauen setzten sich lange maßgeblich dafür ein, dass an den benannten Internaten nach und nach auch ein Rückbezug zur eigenen Kulturgeschichte in den Lehrplan Einzug finden konnte. Sie stießen dabei auf reichliche Vorurteile von Seiten der Lehrer, die berichteten, nach Fluchtorten vor der ungewohnten Musik zu suchen.19

Auf welche Art die Rückbesinnung zur eigenen Musik unter diesen Bedingungen stattfand, war so selbstverständlich stark vom generellen Geist der Schulen beeinflusst, die nun lediglich erlaubten, dass ab und zu indianische Gesänge von den Schülern angestimmt werden durften und die wenigen Kompositionsschüler dieser, eigentlich vornehmlich auf Arbeit ausgelegten, Internate sich in ähnlicher Weise wie MacDowell von indianischen Melodien inspirieren ließen.

Aus diesen Tendenzen heraus entstanden, wie Troutman weiterhin anhand eindrucksvoller Bilder zeigt, „exotische“ Ensembles wie die All Indian Bands oder „The Indian String Quartett“.20

Die programmatische Ausrichtung dieser Musikgruppen hauptsächlich von der westlichen Tradition geprägt und enthielt, ähnlich der Arbeiten europäischer Komponisten, schon aufgrund der Aufführungspraxis wenig originales Kolorit. Dies ist in den Ausführungen Troutmans besonders gut an einer Programmaufstellung des Indian String Quartett abzulesen, bei der die Indianische Suite des Komponisten Ruthyn Turney neben Werken von Mozart, Haydn, Beethoven, Grieg, MacDowell und Skilton gespielt wird.21

Die generelle Tendenz, die indianische Musik zwar zu dokumentieren und zu romantisieren, ihr jedoch jeglichen anspruchsvollen Charakter oder gar die ungefilterte Hörbarkeit abzusprechen, setzte sich hier weiter fort und der relativ geringe dokumentarische Anspruch hinter den, in diesem Rahmen entstandenen, Werken liegt hier deutlich auf der Hand.

 

 

4. Überlieferung innerhalb der afroamerikanischen Kultur

 

Auf völlig andere Weise begegnete man der Musik der Ureinwohner von Seiten einer weiteren unterdrückten Minderheit, den deportierten Afrikanern, die zur Zeit der Jahrhundertwende ähnlicher kultureller Repression ausgesetzt waren.

Augenscheinlich hatte man hier jedoch, gerade auf musikalischer Ebene, weit mehr Öffentlichkeit und Akzeptanz errungen. Mögliche Gründe hierfür, neben der heute weitgehend unstrittigen klanglichen „Qualität“ der Blues- und Jazzklänge, liegen hier sowohl in der durch Sklaverei und Reservate bedingten größeren Präsenz der afroamerikanischen Musik im öffentlichen Leben, als auch in der traurigen Tatsache, dass zur Jahrhundertwende schon weit mehr Sklaven importiert worden waren, als Ureinwohner überlebt hatten.

Einst sollen diese wenigen Überlebenden den entlaufenen Sklaven Schutz geboten haben, so berichten die Musiker des Mardi Gras in New Orleans. Hier findet in Gedenken an die legendäre Hilfe der Indianer jährlich eine musikalische Hommage innerhalb der Karnevalstradition ihren Weg ins das Gehör des Publikums.22 Die hier oft improvisierte und in „Stammeskämpfen“ unter Wettbewerb gestellte Musik orientiert sich in starkem Maße an überlieferten Elementen der nativ amerikanischen Musik.

Besonders Trommeln und Rasseln sowie Frage-Antwort-Gesänge in „indianischem“ Stil werden mit bunten Jazz- und Blueselementen verknüpft und ergeben zusammen einen energetischen und eingängigen Stil, der in der Bevölkerung großen Anklang findet.23

Wie stark das Zusammenspiel (Jamsessions?) mit Ureinwohnern generell Einfluss auf die Jazzkultur genommen hat, kann aufgrund mangelnder Dokumentation leider kaum festgestellt werden. Allerdings lassen sich bis heute Parallelen der beiden Stiltraditionen wie die Rhythmuslastigkeit, die starke Verbindung zum Tanz, die sonoren Blasinstrumente, die Frage-Antwort-Struktur oder auch besonders die Ähnlichkeiten innerhalb der „schleifenden“ vokalen Klangfarben herausfiltern.

Außerdem existieren bis zum heutigen Tage Veröffentlichungen aus dem Bereich des Blues und Jazz, die sich offen zu ihrem „indianischen“ Bezug bekennen24.

 

 

Fazit: Das Echo der Lakota

 

Aufgrund der zuvor benannten Formen der Überlieferung kann gesagt werden, dass bis heute durchaus weithin eine intersubjektive Vorstellung von der Musik der amerikanischen Ureinwohner existiert. Diese orientiert sich jedoch an einem oberflächlichen Bild, das um die Wende zum 20. Jahrhundert herum von wenigen Forschern und vielen touristisch ausgerichteten Attraktionen und der Filmmusik erzeugt wurde. Zu dieser Zeit war darüber hinaus, wie hier leider betont werden muss, ein sehr großer Anteil der nordamerikanischen Urbevölkerung bereits endgültig ausgelöscht. Von den Überlebenden dieses Genozids, besonders von denjenigen, die sich bezüglich der eigenen Kultur in Tourismus und Gesellschaft engagierten, waren viele Angehörige der letzten Sioux-Stämme, bzw. der Lakota.

Die Musik der Ureinwohner war im Gegensatz dazu jedoch, wie anhand der frühen Forschung gezeigt werden konnte, regional sehr differenziert und von großer Bandbreite.

Es existierten sehr unterschiedliche Instrumente, bis hin zu einem heiligen, achtsaitigen und fünf Fuß hohen, wie Baker aus dem Erfahrungsschatz von James Adair, einem der allerersten „Indianerkenner“ überhaupt, zu berichten weiß25 und der mutmaßliche Vorrat an Liedern lässt sich anhand der späten Dokumentation von Frances Densmore abschätzen, die trotz der fortschreitenden Zivilisation noch tausende Musikstücke mit Hilfe von primitiven Aufnahmegeräten aus dem Gedächtnis der Musiker heraus dokumentieren konnte. Hier vornehmlich die Kriegs- und Tanzgesänge einer kleinen Untergruppe zum prägenden Sinnbild einer musikalischen Kultur, in der fast jeder Mensch auch irgendwie ein Musiker war, zu erklären, ist offensichtlich unzureichend und kann nur zu dem bekannten Eindruck von Einseitigkeit und Primitivität führen, den man beim Hören der Ethnopopinterpretationen der heutigen Zeit leicht bekommen kann.

Einen intensiveren Eindruck von den mutmaßlichen wahren musikalischen Fähigkeiten der Ureinwohner kann man den Improvisationen und Traditionen des Mardi Gras und anderer Verarbeitungen innerhalb der afroamerikanischen Musiktradition abgewinnen, die sich schon aufgrund der ähnlicheren öffentlichen Aufführungssituation und der langen Tradition näher an der originalen Erfahrung orientieren. Allerdings muss auch hier abgewägt werden, inwiefern sich trotzdem ein populäres Bild von nativ amerikanischer Musik widerspiegelt.

Was wir heute noch hören können, muss so leider das musikalische Echo der letzten Überlebenden in der amerikanischen Popkultur genannt werden und es bleibt nur die bloße Ahnung von einem verlorenen musikalischen Schatz, der mit Sicherheit weit größer war, als wir es jemals werden wissen können.

 

 

Quellenverzeichnis

 

Literatur:

 

Baker, Theodore : „Über die Musik der nordamerikanischen Wilden“, Leipzig 1882 (google-books)

Clark Lush, Paige: „The All American Other: Native American Music and Musicians on the Circuit Chautauqua“ in: „Americana: The Journal of American Popular Culture (1900-present)“ Volume 7, Issue 2 Lexington 2008 www.americanpopularculture.com/journal/articles/fall_2008/lush.htm

Densmore, Frances: „American Indians and Their Music“, New York 1936

Troutman, John W. : „Indian Blues – American Indians and the Politics of Music 1879-1934“ Norman 2009

Sonstige Medien:

>beigelegte Medien-CD:

  1. Bild: „Cheyenne Sundance“ (wikipedia.de)

  2. Video: „Edward MacDowell Suite No. 2 for orchestra (Indian) Op. 48part 1“ (youtube.com)

  3. Video: „Carlisle Indian Industrial School“ (youtube.com)

  4. Video: „Carlisle Indian School March“ (youtube.com)

  5. Bild: „Carlisle Pupils“ (wikipedia.de)

  6. Video: „Indian Boarding Schools“ (youtube.com)

  7. Bild: „Sundance“ (wikipedia.de)

  8. Video: „Mardi Gras Indians“ (youtube.com)

  9. Video: „Who are the New Orleans Mardi Gras Indians?“ (youtube.com)

  10. MP3: Harrison Jr. , Donald: „Hu-Ta-Nay“ auf dem Album: „Indian Blues“ 2001

     

1Baker, Theodore: “Über die Musik der nordamerikanischen Wilden“ Leipzig, 1882 S. 39

2Ebd. S. 22ff

3Ebd. S. 9

4Ebd. S. 17

5Ebd. S. 38

6Ebd. S. 18

7Ebd. S. 57

8Densmore, Frances „American Indians and Their Music“ New York 1936 S.129

9Youtube: „Edward MacDowell Suite No. 2 for orchestra (Indian) Op. 48part 1“ (Medien-CD)

10Baker S. 28

11https://www.loc.gov/jukebox/recordings/detail/id/10219/ und

https://www.loc.gov/jukebox/recordings/detail/id/10220/

12Youtube: „Indian Boarding Schools“ (Medien-CD)

13Youtube: „Carlisle Indian Industrial School“ (Medien-CD)

14Youtube: „Carlisle Indian School March“ (Medien-CD)

15Troutman, J.W.: „Indian Blues“ S. 31ff.

16Bild: „Sundance“ (Medien-CD)

17„Indian Dancing“ circular no. 1665, Office of Indian Affairs, File 10429-1922-063, GSF, CCF, NARA (National Archives and Records Administration), Washington D.C. In: Troutman, J.W.: “Indian Blues“ S. 68

18Troutman, J.W.: “Indian Blues“ S. 158

19Ebd. S. 162

20Ebd. S. 219

21Ebd. S. 224

22Youtube: „Mardi Gras Indians“ (Medien-CD)

23Youtube: „Who are the New Orleans Mardi Gras Indians?“ (Medien-CD)

24Hörbeispiel: Harrison Jr. , Donald: „Hu-Ta-Nay“ auf dem Album: „Indian Blues“ 2001 (Medien-CD)

25Baker S. 57